55. Abschied vom Kinderwunschzentrum
56. Angst vor der Endgültigkeit
57. Entwicklen Sie rechtzeitig einen Plan B und C
59. Mit der Beziehung so umgehen wie mit dem Kind, das nicht gekommen ist
Fast alle Ärzte in Kinderwunschzentren sind zu ihren Patienten ehrlich: Sie sagen ihnen, wenn es aus ihrer Sicht keinen Sinn mehr macht, die Behandlung fortzusetzen. Zumal Paare mit sehr reduzierten Chancen die Schwangerschafts-Statistik des IVF-Zentrums verschlechtern. Sogenannte frustrane Versuche sind somit nicht nur für das Paar, sondern auch für das IVF-Team frustran.
Problematischer wird es bei Paaren, die pro IVF/ICSI-Versuch rein statistisch betrachtet eine sieben- bis zehnprozentige Chance auf die Geburt eines gesunden Kindes haben. Sollen sie einen 4., 5. oder gar 6. Versuch wagen? Bei diesen Fällen kann der behandelnde Arzt nicht eindeutig zu- oder abraten. Es liegt sehr viel im Ermessenspielraum des Paares: Hat es subjektiv alles getan? „Braucht“ einer von beiden Partnern noch einen letzten Versuch, um abschließen zu können?
Kinderwunschpaare brauchen stets die Expertise eines Reproduktionsmediziners, um ihr weiteres Vorgehen planen zu können. Es erfordert Mut, eine Klartext-Frage an den Arzt zu stellen – und eine Klartext-Antwort zu riskieren. Eine gute Frage ist dabei immer: „Was würden Sie an unserer Stelle machen?“ Bzw. bei einem männlichen Arzt: „Was würden Sie Ihrer Frau empfehlen?“
Psychologisch gesehen entsteht bei Patienten in dieser letzten Phase oft Wut und Ärger auf das Kinderwunschzentrum. Denn: Negative Gefühle erleichtern das endgültige Loslassen des unerfüllten Babywunsches. Aus Sicht der Praxis taucht das Kinderwunschpaar ab – nicht immer wird man damit dem Kinderwunschzentrum gerecht.
Nur wenige Paare führen ein Abschiedsgespräch mit ihrem Arzt im IVF-Zentrum. Dabei wird einvernehmlich die Behandlung beendet, Rückschau gehalten und vielleicht auch gegenseitige Wertschätzung ausgesprochen. Diese sogenannte „shared decision“, die offene, miteinander geteilte Entscheidung, ist für beide Seiten ausgesprochen positiv. Jeder weiß, woran er ist – und das Kinderwunschpaar kann die Behandlungsjahre besser in die Zeit der noch anstehenden Bewältigung integrieren.
Das war’s endgültig: Davor haben alle Kinderwunschpaare am meisten Angst. Definitiv wissen Sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie es sich „nachher“ anfühlt. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der Schmerz in der letzten Phase der Kinderwunschbehandlung am größten ist.
Mit dem letzten „hcg negativ“ setzt eine gewisse Erleichterung ein. Die Wunde beginnt zu vernarben. Frauen stellen fest, dass sie bereits einen Abschied auf Raten hinter sich haben. Manche Männer werden plötzlich negativ überrascht: Sie verstehen emotional erst jetzt, dass sie nie Vater werden. Frauen haben dieses „worst-case“-Szenario hingegen schon öfter durchgespielt.
Psychologen empfehlen, sich nach einigen Misserfolgen oder bei fortgeschrittenem Alter Gedanken darüber zu machen, was passieren soll, wenn es am Ende nicht klappt mit dem eigenen Kind. Durch diesen Plan B und C wird die Angst vor einem unerfüllbaren Kinderwunsch begrenzt:
Prinzipiell gibt es vier Möglichkeiten
• Adoption.
• Pflegekind.
• Behandlung im Ausland.
• Bewusst kinderlos bleiben.
Der Trend in den vergangenen Jahren geht hin zu einer Behandlung im Ausland, da in vielen Ländern, anders als in Deutschland, die Spende von Oozyten erlaubt ist.
Die Zahl der Adoptionen hingegen bleibt konstant niedrig; ein Pflegekind wiederum bietet den meisten Kinderwunschpaaren zu wenig Rechtssicherheit. Im Jahr 2014 gab es in Deutschland 1491 Fremdadoptionen, darunter 622 Kinder nicht-deutscher Herkunft (Auslandsadoption). (Quelle statistisches Bundesamt)
Kinderwunschpaare sollten die vier Möglichkeiten in eine persönliche Reihenfolge bringen: Was wäre für mich der Weg Nummer eins? Nummer zwei? Drei? Und vier? Machen Sie dies als Partnerübung, und zwar unabhängig voneinander. Das Ergebnis ist eine solide Basis für gemeinsame Gespräche mit dem Partner.
Ein unerfüllter Kinderwunsch ist viele Jahre eine offene Wunde, die schmerzt. Jeder Misserfolg und jede schlechte medizinische Nachricht lassen sie noch mehr klaffen.
In den schwierigsten Momenten ist es kaum vorstellbar, dass dieses Leid, dieser seelische Schmerz, jemals wieder weniger wird. Die Praxis zeigt jedoch, dass auch eine solche Wunde mit der Zeit vernarbt. Aber: Die Narbe bleibt „wetterfühlig“. Sie meldet sich immer wieder, etwa dann, wenn die Menopause endgültig eingetreten ist. Oder wenn andere Paare Großeltern werden. Dennoch: Narbenschmerz ist deutlich kürzer und weniger intensiv als Wundschmerz. Und jeder Schmerz hat auch einen „Peak“. Mehr Schmerz geht nicht, sobald der Höhepunkt erreicht ist – danach wird es weniger.
Damit die Wunde heilt, ist es wichtig, dass Sie subjektiv das Gefühl haben, alles getan zu haben. Und sich selbst treu geblieben zu sein. Manche Grenzen haben Sie dabei sicher hinausgeschoben, andere wiederum geachtet.
Die Beziehung ist die größte Ressource für die akute oder auch endgültige Bewältigung der Unfruchtbarkeit. Konkret heißt das: Gehen Sie mit der Partnerschaft genauso liebevoll, aufmerksam und lebendig um, wie mit dem Kind, das nicht kommen konnte. Das ist der Königsweg beim unerfüllten Kinderwunsch.
Viele Paare berichten, dass sie der Kinderwunschweg zusammengeschweißt hat. Darauf lässt sich gut aufbauen. So kann es nach und nach gelingen, dass Energie, Freude und gemeinsame Aktivitäten in einer neuen Form wieder Einzug in Ihr Leben halten.
Die Energie, die bisher an den unerfüllten Kinderwunsch gebunden war, kann nach dem Abschied von ihm anderweitig genutzt werden. Das geschieht aber im Regelfall nicht sofort. Neue Ideen und Vorhaben brauchen Zeit, um zu reifen. Ein schneller Ersatz für das Kind, das nicht kam, ist meist nur ein Strohfeuer.
Im Lauf der Zeit entscheiden sich einige Paare für Zusatzausbildungen und berufliche Veränderungen. Viele gewichten ihr Leben ganz neu: Geld und Karriere spielen keine so große Rolle mehr, dafür gewinnt die Zeit, die man miteinander verbringt, an Bedeutung.
Einen besonderen Stellenwert haben in dieser Lebenssituation Wahlverwandtschaften, also zum Beispiel Freundeskreise, Patenkinder, Kinder von Freunden. Das sind Beziehungen, die langfristig tragfähig sein können.
Nicht zuletzt engagieren sich kinderlos gebliebene Paare auch oft sozial: Sie leben mit und zum Teil auch für ihr Engagement, gehen in ihrer Fürsorglichkeit auf.